Heute startete die Tour de Natur pünklich, also kurz nach 09:30 Uhr, mit ungefähr einhundert Radler:innen – nach gutem Frühstück aus Wam’s Küche: Müsli oder warmer Brei und/oder Brot mit veganen Aufstrichen oder Marmelade oder Erdnussmus, dazu Tee oder Kaffee.
Die Einnahme des Frühstücks fand vor der Turnhalle der Waldorfschule Magdeburg statt. Hier fehlten Bänke oder andere Sitzgelegenheiten; die Stufen der Treppe zum oberen Schulareal dienten manchen als Ersatz. Jetzt durchaus häufiger zu sehen: mitgeführte eigene Sitzmöbel wurden aufgestellt.
Wie schon am Vortag hatte wiederum Sebastian den Hut auf für (vulgo: leitete) diese Tagestour, die nun „auf Strecke“ ging und von Magdeburg über Wanzleben nach Eilsleben, also durch die Magdeburger Börde führte, um dann nach Morsleben und weiter Helmstedt zu gelangen, das zwischen Lappwald und Elm gelegen ist.
Erstes Etappenziel war jenes Areal am Rande des Dörfchens Schleibnitz, das ungefähr 15 km entfernt von Magdeburgs Innenstadt und ungefähr 7 km vom Siedlungsgebiet des Vorortes Ottersleben liegt. Schleibnitz wird umgeben von der Magdeburger Börde, einer intensiv (nicht extensiv) bewirtschafteten – vom Weizen- und Zuckerrübenanbau in großen, oftmals riesigen Feldschlägen geprägten, weitgehend ebenen Landschaft –, deren Boden sehr fruchtbar ist.
Hier am Rand der Feldmark von Schleibnitz erwartete die Touries ein Experte: Jürgen Hartmann, Berater für ökologischen Landbau i.R. und Kenner sowohl der agrarwirtschaftlichen und der landschaftsökologischen Entwicklung als auch der Bebauungsplanung der gesamten Region. Auf einer Ackerfläche von 400 ha bzw. 1000 ha, wenn künftige Bauvorhaben und die Ansiedlung von Zulieferbetrieben auf 1000 ha berücksichtigt werden, soll die Intel-Chip-Fabrik entstehen.
Wirtschaftspolitisch werden mit diesem Großprojekt mehrere Ziele verfolgt: Reduzierung der Abhängigkeit deutscher und europäischer Firmen vom von China bedrohten Taiwan, dem Standort des Weltmarkführers in avancierter Chipherstellung, sowie Schaffung von 8000 Arbeitsplätzen hier – und das heißt auch: in den neuen deutschen Bundesländern, die vom Ende des Braunkohlentagebaus und der Braunkohlenverstromung massiv betroffen sind (die Tour de Natur befasste 2015 sich mit diesem Problem insbesondere in Cottbus: Diskussion mit Vertretern von Vattenfall und der IG BCE Bezirksvertretung). Ungefähr 10 Milliarden Euro werden in das ca. 30 Milliarden kostende Intel-Projekt als Steuermittel fließen. Zum Vergleich: Der gesamte Landeshaushalt beträgt für Sachsen-Anhalt im Jahr 2024 ca. 13 Milliarden Euro. Damit ist klar: Hier müsste fast der gesamte Landeshaushalt verausgabt werden – oder die Steuereinnahmen des Bundes fließen in dieses Unternehmen.
Das vermutlich größte ökologische Problem der Intel-Chip-Fabrik ist deren Wasserverbrauch, der – so hob Jürgen Hartmann hervor – in einer Region stattfinde, die eh unter erheblichem Niederschlags- und Grundwassermangel leide. Die Magdeburger Börde liegt im Windschatten des Harzes, hat zwar die höchsten Boden(güte)punkte, aber bringt bei konventioneller Landwirtschaft nur dann höchste Erträge, wenn die Feldfrüchte mit Grundwasserentnahme gewässert werden, was wiederum den hier eh niedrigen Wasserspiegel nochmals reduziert. Obendrein, so Jürgen Hartmann, sind die so erzeugten Pflanzen deutlich „schwächer“ als jene, die im ökologischen Landbau wachsen, und müssen deshalb mit hohen Dosen an Pestiziden „behandelt“ werden. Das ist auch ein „Geheimnis“ des so ertragreichen, konventionellen Anbaus auf Deutschlands besten Böden.
Die Methode der industriellen Landwirtschaft ist in den LPG-Betrieben der ehemaligen DDR eingeführt worden. Auf den heutigen, noch immer riesigen Feldschlägen, die von Agrargenossenschaften oder Argrarfimen, d.h. den Rechtsnachfolgern der LPGs und Volkseigenen Güter, bewirtschaftet werden, sind noch häufig Brunnenringe zu sehen. Bewässerungskanonen verteilen dieses wertvolle Grundwasser nicht nur in den Boden und dort nach Abzug der Verdunstungsmenge an die Pflanzen, sondern – bei solch einem sommerheißen Tag wie heute in beträchtlichem Maße – auch in die Atmosphäre.
Obendrein sind die meisten Hecken(gehölze) in der Magdeburger Börde zugunsten der Maximierung von Anbauflächen entfernt worden. Die erheblichen mikroklimatischen Effekte der Hecken (insbes. Verminderung der Windaustrockung) sind damit ebenso verloren gegangen wie die Kleinbiotope, die Vögeln und Insekten in diesen Hecken Lebensraum boten.
Der Wasserbedarf der Intel-Fabrik soll das Mehrfache von dem betragen, was die Tesla-Fabrik den trockenen Sandböden Brandenburgs entnimmt. Aber nicht nur die Menge ist riesig, auch die für die Chipproduktion geforderte Wassergüte (Trinkwasserqualität) lässt ein kaum lösbares Problem aufkommen. Die Stadt Magdeburg bezieht einen beträchtlichen Teil ihres Trinkwassers aus der bewaldeten Heide um das ca. 30 km nördlich gelegene Colbitz (den Truppenübungsplatz Colbitz-Letzlinger Heide besuchte die Tour de Natur im Jahr 2015), die als Grundwasserspeicher nicht weiter belastbar ist.
Als Ersatzressource wird erwogen, das saubere Wasser aus dem Drömling (die Tour de Natur wird diese Region am Folgetag durchradeln) zu gewinnen. Dieses im 18. Jahrhundert trockengelegte Moorgebiet emittiert wie alle nicht wiedervernässten Moore große Mengen Kohlendioxid. Deshalb wird dort in einem Langzeitprogramm der Wasserspiegel kontinuierlich angehoben, was den zwischen den Entwässerungsgräben Wiesenmaht und tw. auch Ackerbau betreibenden Landwirten sehr zuwider läuft. Den Drömling also als Wasserquelle für den Bedarf des Intel-Werks anzuzapfen, würde die CO2-Emissionen des dann wieder unter Sauerstoffzufuhr sich zersetzenden Torfes massiv erhöhen.
Bleibt noch die Idee, zur Wassergewinnung den nahegelegenen Fluss, die Elbe, anzuzapfen. Über deren fatale Wasserbilanz in den trockenen Jahreszeiten gab es ja schon am Vortag Informationen von Ernst Paul Dörfler. Touries ergänzten, dass einige der stillgelegten Braunkohlentagebaue in der Lausitz bereits mit Elbwasser „geflutet“ (= jahrzehntelang befüllt) werden und nach dem jetzigen Ende des Braunkohlenabbaus noch sehr viel größerer Wasserbedarf für die Auffüllung der nun offen gelassenen Geländelöcher entstehen wird.
Obendrein gibt es prominente, neue Elbwasserinteressenten. Die – 2015 von der Tour de Natur im Spreewald besichtigte – Verockerung der Nebenbäche bzw. Zuflüsse durch eisenhaltige Ausschwemmungen der aufgeschütteten Tagebaufolgelandschaften kann vermutlich nicht mehr durch Absetzbecken allein aufgefangen werden. Das Einfließen von für Tiere und Pflanzen giftigen Eisenoxids sowie der schädlichen Schwermetalle, des Arsen (Gift) und der radioaktiven Stoffe in das Spreewasser lässt sich kaum mehr aufhalten. Damit wird auch die spreewasserbasierte Versorgung Berlins gefährdet. Die saubere Elbe sollte dann helfen …
Kurzum: All diese Planungen illustrieren, dass auch in Deutschland die Folgenlast von Großprojekten in einen regionalen Umverteilungskampf übergeht, in dem einige Regionen ihren Vorteil finden und zugleich andere noch weiter belastet und ausgebeutet werden. Die Tour de Natur fährt deshalb auch zu den „Verlierern“ dieses ruinösen Zugriffs auf unsere Lebensgrundlagen, um ihnen öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung zu bieten und daran zu erinnern, dass letztlich wir alle die Verlierer sein werden.
In dem kleinen, mit Kopfsteinpflaster aufwendig sanierten Städtchen Wanzleben wurde in der Nähe des Marktplatzes eine Pause eingelegt. Öffentliche Toiletten waren dort vorhanden. Auch diese (sanitäre) Versorgung der Touries wird bei der aufwändigen Streckenplanung mitbedacht.
Zur Mittagsrast radelte die Tour weiter durch die Börderegion in die Kleinstadt Seehausen. Auf dem Areal des Sportplatzes am südlichen Ortsrand hatte Fläming-Kitchen schon alles für die Mittagsmahlzeit vorbereitet
Am frühen Nachmittag führte die Etappe nach Eilsleben, wo einige Touries den Bahnhof aufsuchten, um zum Etappenziel Helmstadt zu reisen. Auch der Schreiber dieser Zeilen musste dort Feder und Tinte aus der Hand legen, um für eine Unterbrechung von sieben Tagen der Tour fernzubleiben.
Die Tour radelte weiter nach Morsleben, einem besonders heiklen Kapitel deutsch-deutscher Umweltpolitikgeschichte, um die Tagestour danach in Helmstedt mit einer Kundgebung zu beenden.
Text: KH3; Fotos: KH3
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