Donnerstag, 01.08.2024, 13. Tag der Tour de Natur: von Uslar nach Hann. Münden (43 km)

Noch ein herrlicher Sommermorgen mit gutem Frühstück auf dem leider voll versiegelten (=geteerten) Schulhof, aber eben reichlich bestückt mit Sitzbänken an Tischen. So konnte gut gelaunt gestartet werden.

Die Route führte in Längsrichtung durch den Solling, über Landstraßen mit Blick auf die Hänge, die überwiegend als – nach den Regenwochen grüne – Wiesen daliegen, auf den Höhen die Waldungen des Solling, meist Laubbäume.

Unterwegs nach Lippoldsberg

Hinunter führte die Route dann in das Tal der Weser und dort in den kleinen Ort Lippoldsberg.

An der Weserfähre in Lippoldsberg

Über den ökologischen Zustand der Weser informierte Dr. Jürgen Bäthe vom Fachbüro EcoRing beim Info-Stopp an der Gierseilfähre. Der Salzgehalt des Flusses sei erheblich in den letzten Jahrzehnten gesenkt worden, was durch die Analyseergebnisse seines Instituts kontinuierlich als Auftragsforschung gezeigt wird. Massive „Verschmutzung“ der Weser ist durch die im oberen Verlauf bzw. am Zufluss Werra gelegene Kali fördernde Industrie (Firma K+S) eingetreten, denn deren reduzierte Einleitung von kali- und phosphorhaltigen Abwässern in die Oberweser vergiftete die Fische und produziert (Präsens, denn hier müssten die angrenzenden Bundesländer strengere Vorgaben für die Landwirtschaft durchsetzen) ein extremes Algenwachstum, für das eben auch die Nitrat- und Phospateinträge durch den Düngereinsatz der Agrarwirtschaft ursächlich sind.

Vortrag von Dr. Jürgen Bäthe über die Ökologie der Weser

Die Fauna der Weser sei beeindruckend. Die Einwanderung von salzliebenden Krebsarten ist rückläufig (warum: s.o.), das Aufwachsen von anderen Arten, deren Fressfeinde somit ausbleiben, findet wieder statt. So sind nun auch wieder viele Fischarten in der Weser angesiedelt. Die geringe Sauerstoffversorgung des Flusses wird insbesondere während der warmen Jahreszeit zu einem erheblichen Problem, da aufgrund der großen „Nährstoffeinleitung“ zu großes Algenwachstum stattfindet, was erhöhten Sauerstoffverbrauch mit sich bringt, der der Wasserfauna dann fehlt.

Ein Naturgesetz gibt zu denken: Salz lässt sich aus fließendem Wasser nicht durch Filter oder chemische Reaktionen entfernen, sondern nur durch „Verdünnung“ – oder durch energieaufwändige Siedeprozesse. Somit tragen nicht nur die Kaliindustrie zur schädlichen Salzeinleitung ein, sondern z. B. auch alle Spülmaschinennutzer, deren „Reinigungsmittel“ zu ca. 80% aus Salz bestehen, das in den Kläranlagen nicht (s.o.) entfernt werden kann. Auch unsere wassersparenden Spülmaschinen tragen somit nicht unerheblich zur Versalzung der Flüsse bei.

Die Schiffbarkeit der Weser ist ähnlich gering wie jene der von der Tour anfangs besuchten Elbe. Als Bundeswasserstraße findet Ausbaggern, Buhnenbau und Uferabmauerung statt, was die Ökologie nachteilig verändert. Ein erheblicher Mengenzufluss der Weser stammt aus der Edertalsperre, die im Sauerland mit dem einzigen Zweck erbaut worden ist, als Wasserreservoir für den Mittellandkanal zu dienen: Über die Eder wird – meist für die Flussfauna zu kühles Tiefenwasser – als Nachfüllmenge in die Fulda und von dieser in die Weser geleitet, um in Minden in den Kanal hochgepumpt zu werden.

Eine grundlegende Problemlösung illustriert das Beispiel der Lahn, die aus dem Bundesbesitz herausgekauft worden ist und nun nicht mehr als Schifffahrtstraße zugerichtet, sondern als Fluss vom Land und den anliegenden Kommunen gepflegt wird.

Zum Abschluss zeigte Jürgen Bäthe am Ufer der Weser einige Kleinlebewesen, insbesondere Süßwasserkrebse und -schwämme; letztere erbringen erstaunliche Filtrationsleistungen.

Süßwasserschwamm aus dem Uferwasser der Weser

Dann hieß es, auf die Räder – und bei hochsommerlicher Hitze radelten die Touries weiter über schöne Radwege und über Nebenstraßen entlang der Weser zum Mittagshalt am Kloster Bursfelde. Hier gab es genug Schattenplätze, Salat und schmackhafte, etwas der indischen Küche zuneigende Linsensuppe und Brot mit veganen Aufstrichen.

Mittagsrast am Kloster Bursfelde

Die Weiterfahrt ging das Wesertal hinauf, fast immer in Sichtweite des Weserradwegs, der mittlerweile der beliebteste Radfernweg Deutschlands ist. Bei schwülem Wetter, ein Gewitter oder Regenguss war angekündigt und traf zum Glück erst abends ein, radelten die Touries in die Altstadt von Hann. Münden und stellten direkt an der Werra ihre Räder ab. Im Innenhof des Packhauses fand dann eine Informations- und Diskussionsveranstaltung statt.

Zunächst erinnerte Kai daran, dass im Jahr 2018 hier in dieser Stadt das erste Freie Lastenrad des Landkreises Göttingen im Beisein von Jürgen Trittin, dem Bundestagsabgeordneten der Grünen/Bündnis 90, an die Arbeitsgruppe „Leila“ des ADFC Göttingen übergeben worden ist – während des damaligen Besuchs der Tour de Natur. Auf dem Tacho dieses Rades, das Kai auf die diesjährige Tour mitgenommen und mit Carla-Cargo zu noch mehr Transportkapazität erweitert hat,  stehen heute mehrere Zehntausend Kilometer. Es funktioniert immer noch prima und leistet seine Dienste im Landkreis Göttingen.

Leila: Freies Lastenrad vom Landkreis Göttingen unterwegs auf der Tour de Natur

Herr Tobias Dannenberg, der Bürgermeister von Hann. Münden, begrüßte im Innenhof des Packhofs die Tour de Natur. Nachfolgend konnten die Touries Fragen an die hier anwesenden Fachpersonen richten.

Nicole Prediger, Leiterin des Bereichs Stadtentwicklung, erläuterte das Konzept der „Schwammstadt“, von dem die Tour de Natur bereits in Hannover einiges erfahren hatte. Die Stadt Hann. Münden bietet z. B. Beratungsangebote für Personen, die Privatgärten klimafreundlich gestalten möchten. Noch wird nicht auf die Besitzer jener Gärten mit Sanktionen eingewirkt, die z. B. größere Steinflächen statt Beetflächen vorhalten (sog. Schottergärten).

Diskussion mit (von links) Adalbert Leuner (Radverkehrsbeauftragter), Nicole Prediger (Leiterin des Bereichs Stadtentwicklung), Sabine Momm (Bürgergenossenschaft Mündener Altstadt) und Tabea (Tour de Natur)

Vor ca. fünf Jahren ist eine Klimafolgenanalyse für die Stadt vorgenommen worden. Bezogen auf diesen Rahmen hat fortan jedes Bauvorhaben nachzuweisen, dass die darin aufgelisteten Anforderungen erfüllt werden. So muss z. B. das Ausmaß der Versiegelung bei Neu- bzw. der Entsiegelung bei Umbau von Altsubstanz ausgewiesen werden. Es gibt ein Projekt zur Wasserversickerung an den Hangflächen oberhalb der Stadt, um insbesondere bei Starkregen den raschen Wassereintrag in Werra und Fulda zu verhindern. Die Hochwassergefährdung der Stadt ist augenfällig: Hier treffen Fulda und Werra zusammen, die die Altstadt umfließen. Hochwasserstandsmarken am Packhaus, das direkt an die Werra angrenzt, wirken beunruhigend.

Adalbert Leuner blickte kritisch auf die tradierte Radverkehrssituation der Stadt. In den kommenden Jahren soll dieser Verkehrsbereich deutlich aufgewertet und ausgebaut werden. Immerhin ist die Stelle des Radverkehrsbeauftragten der Stadt geschaffen worden, die er mit großem Engagement übernommen hat.

Interessant ist das Projekt Fachwerk5Eck, das von fünf Städten (Hann. Münden, Einbeck, Duderstadt, Einbeck, Osterode) zur Rettung von Fachwerkgebäuden gegründet worden ist. Immerhin ist die Sanierung dieser Bausubstanz wesentlich umweltfreundlicher als der Abriss und Neubau. Zudem wird das Bild einer historischen Innenstadt damit erhalten und unschöne Eindrücke verfallender Bauobjekte werden vermieden.

Frau Sabine Momm ist Mitglied der „Bürgergenossenschaft Mündener Altstadt e.V.“, die seit elf Jahren besteht. Sabine Momm führte die Touries zu dem nahegelegenen ersten Sanierungsprojekt, das heute als historisch angemessen restauriertes und zugleich modernes Veranstaltungs- und Wohnhaus genutzt wird. Mittlerweile hat die Genossenschaft vier weitere Häuser bzw. Hausruinen gekauft und deren Sanierung begonnen und teilweise schon fertiggestellt. Übrigens: Für die Grundsanierung des ersten Gebäudes hatten sich damals 190 engagierte Menschen mit mehr oder minder großen handwerklichen Fähigkeiten zusammen gefunden und das Objekt in nur neun Tagen grundsaniert (nach neun Monaten wurde „alles“ fertig). Diese Menschen waren eingebunden in einen grandiosen Arbeitsplan eines hier sich einbringenden Architekten, der alle Gewerke und die Aktivisten so einband, dass sie sich dabei nicht „auf die Füße traten“, und das in einem engen, 3-geschossigen Fachwerkgebäude!

Sabine Momm informiert und zeigt das Projekt Speckstr. 7

Zum Abend hin radelte die Tour zum Quartier, dem Grotefend Gymnasium, wo sie sich auf dem Außengelände mit Zelten und in der riesigen Turnhalle mit Liegematten ausbreiten konnte.

Belegungskomfort XXL: die Dreifachturnhalle des Grotefend Gymnasiums als Nachtquartier

Um 20 Uhr begann eine sehr interessante Abendveranstaltung, der Vortrag von Dr. Jochen Eckart (Professor für Verkehrsökologie an der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft) zum Thema „Sicherer Radverkehr“. Die vorgestellten empirischen Ergebnisse der Radverkehrsforschung waren zum Teil verblüffend. So sind die Unfallszahlen zwischen den verschiedenen Führungsformen des Radverkehrs (insbesondere Radweg, Schutzstreifen, Mischverkehr) fast gleich, obgleich hier die subjektive Sicherheitsempfindung erhebliche Unterschiede macht. Und obendrein: An Knotenpunkten sind fahrbahngeführte Radwege deutlich sicherer als die Alternativen.

Jochen Eckart hob hervor, dass es ein („das“) Regelwerk für die Gestaltung der Radinfrastruktur gibt, die ERA („Empfehlungen für Radverkehrsanlagen“, herausgegeben von der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen in Köln, kostenpflichtig). Die ERA gilt für die Radverkehrsplanung und – so die Einschätzung des Referenten – ist durchaus hilfreich. Die Straßenverkehrsbehörde hingegen arbeitet auf der Grundlage der StVO (Straßenverkehrsordnung), die von den meisten Fachpersonen als nicht mehr zeitgemäß und eher radverkehrsungünstig eingeschätzt werde.

Es gab zahlreiche, mehr oder minder auf die Vortragsthematik bezogene Fragen aus dem großen Kreis zu Zuhörer, was auch zeigt, dass die Touries mit der Thematik viele persönliche Erfahrungen verbinden. Jochen Eckart gelang es immer wieder, den schwierigen Balanceakt zu vollführen: alle Frager zu Wort kommen zu lassen und auf deren Anliegen zu reagieren und dennoch den Fachvortrag fortzusetzen.

Als Empfehlung wies er auf das Projekt Unfallatlas hin, das interessante empirische Daten der statistischen Landesämter und des statistischen Bundesamtes gut aufbereitet liefert.

Ein heikles Thema ist die zunehmende Nutzung von Pedelecs; diese Nutzergruppe ist mit steigender Frequenz an tödlichen Verkehrsunfällen beteiligt. Was kaum bekannt ist: Wählt man die Anzahl der Verkehrstoten bezogen auf die Kilometerleistung als Variable, so ist das Radfahren ungefähr so sicher wie PKW-Fahren oder Zufußgehen. Extrem unsicher ist hingegen das Motorradfahren und extrem sicher ist der ÖPNV.

Text: KH3; Fotos: Simone, KH3


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