Donnerstag, 25. Juli 2019, sechster Tag der TdN 2019: Hitzacker – Lenzen (70 km)

 

Für heute waren 35 Grad im Schatten angesagt, eine ziemliche Herausforderung für eine 70 km lange Strecke. Die Fähre in Pevestorf ist wegen Niedrigwasser außer Betrieb; so mussten 18 zusätzliche Kilometer geradelt werden, um die Fähre in Schnackenburg zu nehmen. Eine Teilgruppe von ca. 50 Tourteilnehmern entschied sich, auf direktem Wege nach Lenzen zu radeln. So teilte sich die Tour in Dannenberg. Mehr als hundert Radler wählten die längere Strecke.

Der erste Stopp fand am sog. Castor-Verladebahnhof in Dannenberg statt. Viel war nicht zu sehen: Eine Halle für den Verladekrahn, Gleisanlagen und Umzäunung. Sigmund Schmaggel begrüßte die Tourteilnehmer an diesem bedeutungsvollen Ort und schilderte die Polizeieinsätze bei den Castortransporten. Kaum vorstellbar: In dieser Region waren mehr als 10.000 Polizisten stationiert. Die Dörfer in der direkten Umgebung des Verladebahnhofs wurden abgeriegelt, insbesondere Breese in der Marsch.

Infohalt am Castor-Verladebahnhof in Dannenberg

Die Castor-Transporte wurden aus polizeistrategischen Gründen bald schon nicht mehr im Sommer durchgeführt, sondern in den kühlen und regnerischen Jahreszeiten, gern auch nachts. Allein die Transportbedingungen sind schon heikel: Ein Castor-Behälter wiegt 110 Tonnen und muss über die schmalen Straßen mit Schwertransportern nach Gorleben gefahren werden, was nur sehr langsam möglich ist. Ein Castor-Behälter enthält hochgradig strahlende Brennstäbe und darf keinesfalls in eine kritische Lagesituation geraten, also nicht kippen und gar stürzen.

Entlang der Wegstrecke fanden trotz massivstem Polizeieinsatz Proteste der Antiatomkraftbewegung statt, die diese Transporte zwar nicht gänzlich verhinderten, aber ihre Durchführung erschwerten. Vielleicht ist dieses hochgefährliche, extrem kostspielige und staatliche Gewalt in sehr kritischer Art zeigende Szenarium jetzt dauerhaft beendet. Jedenfalls sind die letzten Castor-Transporte 2011 durchgeführt worden. In diesem Jahr war die Tour de Natur gleichfalls in Dannenberg und unterstützte hier den Protest der Bürgerinitiativen gegen Atomkraft, damals ein kleiner Beitrag für einen heute großen Erfolg.

Die Radtour führte dann zu dem legendären Gasthof Wiese in Gedelitz, von dem viele Protestaktionen ihren Ausgang nahmen. Heute war die Tour de Natur hier zur Mittagsrast eingeladen. Im schattigen Hof hatte Wam Kat die Küche aufgebaut und eine Stärkung für die Tourteilnehmer vorbereitet, die schon einige dreißig Kilometer hinter sich und mindestens die gleiche Distanz noch vor sich hatten.

Essensausgabe im Garten des Gasthofs Wiese in Gedelitz

Nach der Mittagsrast ging es weiter zum „Erkundungsbergwerk“ Gorleben, also zu jenem unsäglichen Vorhaben, gegen das jahrzehntelang massivste Proteste gerichtet worden sind. Die Rechtsgrundlage sieht nicht mehr vor, als dass hier ein Salzstock „erkundet“ wird. Was daraus widerrechtlich und mühsam durch politische Machenschaften rechtsfähig gemacht worden ist, konnte von den Tourteilnehmern umfahren werden.

An der Beluga, dem hierher verbrachten Aktionsschiff von Greenpeace, fand eine Kundgebung statt, auf der Torben Klages und Elisabeth Hafner-Reckers von der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg einen kurzen Überblick über die Geschichte und den aktuellen Stand der Protestbewegung, hinter der sehr viele im Wendland lebenden Menschen stehen und mit denen sich noch mehr Menschen aus dem ganzen Land solidarisiert haben.

Kundgebung an der Beluga – direkt gegenüber vom sog. Erkundungsbergwerk und vom atomaren Zwischenlager in Gorleben

Vielleicht kann die derzeitige Lage so skizziert werden. Ohne Endlager für insbesondere atomare Brennelemente, deren gefährliche Strahlung erst nach Jahrtausenden hinreichend reduziert sein wird, dürfen Atomkraftwerke nicht betrieben werden. Die auf kürzestem politischen Wege versuchte Lösung, im abgelegenen Gorleben dafür Einrichtungen zu schaffen, für die weder eine hinreichende technische noch wissenschaftliche Absicherung besteht, ist gescheitert, nicht nur wegen „Fukushima“, sondern auch als Folge der Breitenwirkung der Widerstandsaktionen. Einen irgendwie versuchten, schleichenden Übergang von der Erkundung hin zur Einlagerung wird es im Bergwerk Gorleben jedenfalls nicht geben. Dem ist jetzt das Endlagersuchgesetz vorgeschaltet. Aber: Bleibt wachsam! Gorleben ist definitiv kein geeigneter Standort.

Aber neben dem Bergwerksgelände ist die sog. Kartoffelscheune errichtet worden: das „Zwischenlager“ für in Castor-Behälter eingebrachte Brennelemente. 113 dieser Großbehälter mit ihrem schlicht und einfach nicht entsorgbaren Atommüll sind hier mittlerweile platziert und emittieren Hitze und nicht abschirmbare atomare Strahlung, die durch die Luftkühlung schlicht und einfach in die Umgebung „entsorgt“ wird. Hier findet de facto so etwas wie Endlagerung statt, die Zwischenlagerung genannt wird und – viele Menschen wissen das nicht – an jedem deutschen Atomkraftwerksstandort gleichfalls schon besteht. Auch deshalb stimmt, was als Parole so formuliert worden ist: Gorleben ist überall!

Die Tour führte dann weiter durch das Wendland zur Elbe und machte einen Zwischenstopp in Pevestorf. Die Getränkefirma Voelkel hatte dazu eingeladen und empfing die durstigen Radler mit einer ganz besonderen Veranstaltung. Selbstverständlich gab es reichlich Erfrischungsgetränke, aber das Besondere war sicherlich der Einblick in die grundlegenden Ideen, die diese in vieler Hinsicht so erfolgreiche Firma nun schon seit über hundert Jahren prägen. Boris Voelkel schilderte launig und informativ, dass seine Großeltern einen Obstverwertungsbetrieb zu Beginn des letzten Jahrhunderts hier in den Obstgärten an der Elbe gegründet und sich von den Ideen ihres Zeitgenossen Rudolf Steiner zur biodynamischen Landwirtschaft haben inspirieren lassen. Sein Vater – ein munterer älterer Herr, der sich mit einem seiner Enkel der Tourgruppe zugesellte – hat aus diesen Anfängen einen modernen Wirtschaftsbetrieb aufbauen können, in dem ca. 250 Mitarbeiter tätig sind. Seine vier Söhne sind als Bereichsleiter in das Unternehmen eingestiegen, wohnen mit ihren Familien in dessen Nähe und führen unter den gesellschaftlichen Bedingungen eines weltweiten Kapitalismus und Raubbaus an den natürlichen Grundlagen unseres Lebens ein beeindruckendes Experiment weiter.

Betriebsvorstellung und Getränkeverkostung bei Voelkel in Pevestorf

Die anthroposophische Idee der sozialen Dreigliederung der Gesellschaft und die daraus entwickelte „Gemeinwohlökonomie“ sollen viele Bereiche des Firmenlebens prägen und in die Wirtschaftswelt hinauswirken. So ist das Familienunternehmen (genauer: 90 % des Firmenkapitals) 2011 in zwei Stiftungen überführt worden. Das Obst und Gemüse wird – so weit möglich – von regionalen Dauerlieferanten angebaut, zumeist in Demeter-Betrieben, deren witterungsbedingte Ertragsschwankungen durch eine geschickte Lagerhaltung und Preisgestaltung in erheblichem Maße ausgeglichen werden. Boris Voelkel formulierte die Einkaufsstrategie so: „Gesunde Lebensmittel aus gesunden Strukturen“.

Nicht wenige große Probleme müssen noch angegangen werden. So ist „samenfestes“ Gemüse, das nicht über Hybride von Bayer/Monsanto generiert wird, keineswegs leicht zu ziehen, weil es an der entsprechenden Samenproduktion mangelt. Hier muss also an einer Teilstruktur nachhaltigen Gemüseanbaus noch erheblich gearbeitet werden.

Elbüberquerung in Schnackenburg

Anschließend wurde bis zur Fähre in Schnackenburg geradelt, die noch genug, aber für solch einen großen Strom dennoch erstaunlich wenig Wasser unter dem Kiel hat und übersetzen kann. Der Klimawandel zeigt sich auch im Niedrigpegel der Elbe (ca. 85 cm) und in der fatalen Trockenheit der Ackerregionen in Brandenburg und Sachsen-Anhalt.

Ziel und Übernachtungsort war Lenzen, eine kleine, geradezu idyllisches Stadt an der Elbe. Das Schloss Lenzen mit Nebengebäuden und Parkanlagen hat der BUND übernommen und zu einem faszinierenden Naturschutz-Infozentrum ausgebaut, mit Hotel- und Restaurationsbetrieb, mit Natur(lyrik)Garten und einem Landschaftspark, der an den von dem Flüsschen xxx gespeisten Burgraben anschließt.

Über das Gesamtprojekt informierte ein geführter Rundgang. Eine schöne Szenerie bot auch die feierliche Einpflanzung der ersten der drei mitgeführten Flatterulmen auf dem Parkgelände unterhalb des Schlosses. Die „Baum des Jahres - Dr. Silvius Wodarz Stiftung” hat in diesem Jahr die Flatterulme gewählt, um am Beispiel dieser Art die Menschen zum Wiederentdecken der Bäume in ihrer Umgebung anzuregen.

Nun fehlte der Tour de Natur für die diesjährige Aktion eine Schirmherrin. Fritz löste das Problem, indem er drei Flatterulmen einlud, diese Aufgabe zu übernehmen. Ihre späterhin einmal weit ausladenden Kronen entfalten einen schönen Schirm, der sie auch als Alleebäume empfiehlt. Zudem ist die Flatterulme recht unempfindlich gegenüber klimatischen Schwankungen und übersteht sogar mehr als einhundert Tage bei Wasserüberflutung. Die beiden anderen Ulmenarten (Berg- und Feldulme) sind vom Aussterben bedroht, weil seit über einhundert Jahren ein über Holzimporte aus Ostasien eingeschleppter Pilz ihre Wasserleitungsbahnen verstopft und das Kronenholz zum Absterben bringt. Kurioserweise wäre dies auch bei der Flatterulme der Fall, wenn die beiden Käferarten, die diesen Pilz übertragen, sie anflögen. Dies aber tun diese Käfer nicht, weil sie die Flatterulme schlicht und einfach nicht für eine Ulme halten. Ihre Rinde und deren Struktur weicht erheblich von den beiden anderen Ulmenarten ab. So hat sich der Status der Flatterulme, ein – von der der Käferwelt – verkannter oder verschmähter Sonderling zu sein, sehr zu ihrem Vorteil ausgewirkt.

Schirm einer ausgewachsenen Flatterulme aus den Elbauen (Foto von Christian Fischer, Wikipedia)

Zum abendlichen Bad lud der nahegelegene See ein; auf der Restaurant-Terrasse gab es kühles Bier.

Abendstimmung vor Lenzen